Eine Kurzgeschichte zum Thema Wendepunkte. Momentaufnahmen im Spannungsfeld der Grenzöffnung 1990 und eines fiktiven dritten Weltkriegs aus der Sicht zweier Arbeiter, die in einem Lichtenberger (Berlin) Schrebergartenhaus leben. 📅 14.09.2024. 📝14.961 Zeichen.
Etwa 1994/1995 wohnten wir ein Jahr in Berlin-Lichtenberg, genauer an der Sewanstraße, siebte Etage, freier Blick auf Karlshorst und umzu. Sylvester ganz enorm spannend übrigens. Ringsum erhoben sich Plattenbauten. Ein Großteil war nicht saniert - also nicht frei von Asbest. Manche Bauten besaßen noch weiße Außenkacheln. Ein typisches Bild: Arbeiter, die sich in weißen Doppelripp-Unterhemden weit aus dem Fenster lehnten, wenn es im Sommer heiß war. Andere Plattenbau-Siedlungen dagegen waren entmietet mit ramponierten Außenflächen. Wie leergebombt, denn da lebte weit und breiter keiner.
Etwas entfernt lag genau der Springbrunnen, den ich in der Geschichte beschrieb, genau so, wie ich ihn beschrieb. Ganz in der Nähe war der Tiergarten und der Supermarkt Kaiser´s Kaffee - ganz viel Kaffeewerbung überhaupt. Vietnamesen verkauften illegale Zigaretten und flitzten durch die Schächte davon, wenn die Polizei anrückte. Die waren für ihre Kunden da, denn die retteten die Kunden gleich mit!
Wenn man mit dem Hund spazierte, gab es nur einen ruhigen Naturweg. Der führte unter einem Tunnel auf die andere Seite des Eisenbahndammes. Dort erstreckte sich eine riesige Schrebergartensiedlung. Einige Häuser waren vergrößert, winterfest und von einem hohen, uneinsichtigen Bretterzaun umgeben. Da wohnten die Leute. Wohl weil sie die Enge der Plattenbauten nicht mochten. Ein solches Haus schwebte mir vor, als ich das Szenario schrieb.
Die Wende war damals noch ganz frisch. Nicht alle waren darüber glücklich oder wollten sich mit der West-Art anfreunden. Ich habe sie gehört, die unzufriedenen Stimmen hier und da und dort. Nicht nur in Berlin, sondern das Jahr darauf auch in Karstädt, einem Dorf in der Prignitz, eine Stunde Autofahrt entfernt. Da wurde schon einmal auf den Westen gewettert, weil sich so manch einer mit dem neuen Stil nicht anfreunden konnte. Aber solch Schimpfen, das gehört dazu, heute, immer, überall diesseits und jenseits jeder Grenzen. Sonst wäre es ja steril. Doch die Einstellung nahm ich zum Anlass für die beiden Charaktere.
Wissen Sie übrigens, dass ich zur Wende 89/90 Sylvester in Berlin war? Damals ahnten wir noch nichts von einer Wiedervereinigung oder von offenen Grenzen. Wir waren zufällig da, wie immer Sylvester. Wir besuchten auch nicht das legendäre Konzert mit Kit-Malibu-Superstar, sondern stromerten in einer Clique durch die Stadt.
Um zehn Uhr abends händigten uns die Grenzwachen noch eine Art Passierschein/Tagesschein aus, damit wir Ost-Berlin besuchen durften. Wir waren begeistert. Ganz enorm locker nach all dem akribischen Passkontrollen, die man so fürchtete.
Stunden später dann war die Grenze weg, auch keine Grenzwache mehr zu sehen, weit und breit nicht. Wir konnten einfach durchlaufen, so wie in Trance, so als wäre das nichts. Und die Scheine einfach wegwerfen. Das taten wir auch. Heute würde ich sie aufheben. Sie sind bestimmt eine Rarität!
In der Nacht reagierten einige Ostdeutsche sehr aggressiv auf die Öffnung, auf Westdeutsche. Als wir die neue Grenzfreiheit dann mal so richtig neugierig voll austesten wollten, fuhren wir mit dem Wagen nach Mitternacht durch Ostberlin.
Natürlich verfuhren wir uns prompt ganz kolossal und waren plötzlich mitten im Nirgendwo. Nur kleine Häuser, weit und breit niemand und nichts zu sehen.
Natürlich gab es keine Schilder nach West-Berlin, kein nichts. Wir hatten keine Ahnung wohin. Als wir nach dem Weg fragten, flippte einer aus und beschimpfte uns als Wessies. Er wurde so aggressiv, dass wir zum Auto flohen. Er verfolgte sogar das Auto und trat dagegen, laut rufend. Vollgas! Puh! Aber alle andere waren dann wieder super ultimativ nett.
Ich schweife ab!
Diese historisch-persönlichen Zutaten mischte ich mit der aktuell grassierenden Kriegsangst vor Russland. Schon hatten wir das Grundkonzept der Geschichte. Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, in das Szenario Ökothemen zu schummeln. Und die Wortspielereien, die fielen mir ganz impulsiv ein, weil sie in die Stimmung passten.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen. Feedback willkommen.
Kurzgeschichte zum Walter Serner Preis 2024
Thema Wendepunkte
Veröffentlicht: 1.Oktober 2024
Inhalte meiner Geschichte: 🐕 🏠 🚂 🌹 🌼 🌲 🌸 🌷 🌺 🌿 👮 🌻
2029. Das Gartentor schwang sanft auf und wieder zu, auf zu, auf zu. Ganz seicht nur, weil der Wind es sanft berührte. Es wohnte draußen vor der Stadt, da wo die Schrebergärten aufhörten und das Wildkraut begann. Da gleich vor dem Eisenbahntunnel, der auf die andere Seite des Dammes führte, hinten zu den Plattenbauten, die sich reihten wie eine Armee schmutziger, abgekämpfter Soldaten: zerbombt, rußig, von Trümmern durchsetzt. Bombenkrater so frisch, als glühten sie noch.
Das Gartentor war alt, hölzern, grün angestrichen wie so viele. Doch es war nicht wie so viele, denn es war frei. Es konnte sich frei mit dem Wind schwingen. Oder stopp mal! War es dann wirklich frei … in seinem Scharnier … als Gefangener des Windes. Gefangen in der Freiheit?
Eine Feder flog vorbei.
Sie war weiß.
Sie trudelte langsam zu Boden, auf den furchigen Schotterweg. Doch das wollte der Wind nicht. Er hob sie hoch und trug sie weiter ins Grün. Danke Wind.
Budaró folgte der Feder mit seinen Augen bis sie zu Boden quirlte, zart wie eine Tänzerin aus dem Schwanensee. Er lächelte. Er ließ seinen Blick durchs Grün wandern und lächelte weiter. Vielleicht dürfen sie wieder bei uns leben, die Schmetterlinge, die Käfer. Dann kommen auch die Vögel zurück. So wie wir zurückkommen sind.
Ein Zug stoppte mit Quietschen und Knirschen und Scheppern. Die dunkelblaue Lok mit ihrer gelben Nase koppelte ihre Waggons ab und fuhr alleine weg. Ein Stück nur. Zehn Meter vielleicht. Dann blieb sie stehen. Einer sprang heraus. Der sah aus wie jeder und trug was jeder trug. Ja, du da. Zieh’ ihn mal an. Nicht umdrehen, ich meine dich da. Ja, zieh’ ihn mal an wie du ihn hübsch findest.
Er hieß Jorin. Lokführer war er. Hübsch gekleidet war er jetzt und eine Kappe trug er auch. Der Jorin stiefelte den sehr steilen Bahndamm hinab, rutschte, stiefelte wieder, gerade wie eine Kerze, obwohl der Hang so krumm war wie ein Dorn.
Jorin ging durch das grüne Tor in den Schrebergarten. Weiter zum Holzhaus ganz am Ende. Das mit den Häkelgardinen an den Fensterchen. Da wo der Hund lag, wo Rosenknospen vom Herbst gejagt wurden. Er winkte Budaró, klopfte mit seiner Faust auf den Tisch und setzte sich.
»Budaró!«, grüßte er. »Sitzt, wo du immer sitzt!«
»Jorin! Tust, was du immer tust. Ist schon fesch, solch Lok. Bin verdammt stolz auf dich. – Hier, hab’ einen Kaffee fertig. Stück Kuchen auch. Dann können wir gehen.«
»Jaw«, sagte Jorin. Er nahm die Tasse und nippte.
»Wie war’s?«, fragte Budaró und schaute ihm zu.
»So, wie’s immer ist«, antwortete Jorin. »Das Grün kommt langsam wieder. Überall. Sie haben auch die Kartoffeln freigegeben.«
Budaró grunzte. »Echte Kartoffeln! Die holen wir uns, was meinst du.«
Schwungvoll stand er auf und zog seine Jacke drüber. Er holte sein Rad: ein altes, schwarzes Ding mit geschwungenem Rahmen und lang wie ein Kamel, rostig war es auch. Dabei streichelte er über seine Rosen, über wunderhübsches Wildkraut, das jetzt seine letzten Blüten zeigte.
»Komm Wa’a«, rief er den Hund.
Zu dritt verließen sie den Garten. Das Tor blieb offen.
Schnitt.
1994. Zu zweit verließen sie den Garten. Das Tor wurde sorgsam verschlossen.
»Hoi«, sagte Budaró und zeigte in den Himmel. »Er betrügt uns. Jetzt ist er himmelblau, doch die haben Unwetter angesagt. Es kann uns erwischen.«
»Ach, was die immer sagen«, meinte Jorin. »Außerdem kann ein Himmel nicht lügen. Die schon. Die sagen immer, die wissen alles, doch dann ist’s nur Klamauk. Pfusch. Unwissenheit. Ignoranz. Ich höre nur auf mich.«
Budaró lachte leise. »Wenn wir zurück sind, kann’s ruhig losgehen. Is’ gut für meine Rosen. Trocken sind die. Ist echt heiß. Ich laufe mal durch die Springbrunnen, was meinst du.«
»Jaw.«
Sie schritten durch den Eisenbahntunnel, dann weiter einen breiten, holprigen Sandweg entlang des Bahndamms. An der Seite wucherten Wildblumen, von Schmetterlingen umtanzt. Grillen hüpften. Ein Heupferd versteckte sich.
Als sich die Büsche lichteten, die mit den vielen schimpfenden Finken, stießen sie auf die Plattenbauten. Grau waren die, weil Farbe fehlte. Davor verrottete Plätze. Undefinierbare Plastiksäcke an den Rändern, alte Kühlschränke säuberlich aufgereiht. Aber die Platten selbst, die waren proper. Da hatte keiner randaliert. Damals nicht, nein. Weil die dann kamen und einen einkassierten. Du Staatsfeind, du.
»Wie lange stehen die leer?«, fragte Jorin.
»Weiß nicht. Jahre«, antwortete Budaró. »Jetzt haben die da von drüben angefangen, die Häuser am Bahnhof zu sanieren. Irgendwann holen sie den Asbest auch hier ’raus. Dann wird’s schmuck wie im Ballsaal.«
Jorin grunzte. »Nee. Hier wird’s wie auf einem Reißbrett. Die das Geld haben, die wollen mehr. Mehr Struktur. Mehr alles. Also: kein Grün, kein Baum.«
»Warum sollten sie? Das kostet.«
»Die wollen von Bodendeckern umgeben sein, um sich größer zu fühlen.«
»Ach!«
»Doch. Is’ so. Alles übersichtlich. Plattiert. Normiert. Asphaltiert. Damit sie uns auf die Finger gucken, alles berechnen, planen, planieren, katalogisieren.«
»Nee!«
»Doch. Darfst selbst deinen Balkon nicht schmücken, weil’s dann nicht mehr einheitlich ist. Die sehen alles.«
»Die sehen alles? Jaw, hab’ mich gar nicht gekämmt«, murrte Budaró. Er strich sich die Haare vor einem Laternenpfahl glatt und lachte.
»Gibt doch keinen, der da wohnen will«, sagte er viel später, als sie schon über die Straße gingen.
»Die lassen sich was einfallen«, beteuerte Jorin. »Wenn die Hütten leer stehen, ist’s kein Profit.«
»Ah, komm. Ich such’ kein Haar in der Suppe. Ihr Supermarkt, der ist klasse.«
Konsum ist Kultur. Chaos verboten.
Alles von der Stange. Nur pflücken.
Mehr. Meer. Leer.
Du weißt nicht wie das geht? Sie zeigen’s dir.
Du willst es nicht? Sie brechen dich.
Hey, ich flüstere dir aber was. Konsum, das ist ein Elixier. Zivilisation.
Fortschritt. Schritt vor. Fort Schritt!
Sie schoben das Rad über den Platz, durch die Springbrunnen, die aus dem blanken Boden sprudelten wie Geysire. Kinder tobten, badeten, spielten im Wasser. Du da, du da hinten da, zieh’ sie mal an, die Kinder, die da zwischen den Springbrunnen spielen, da bei Plattenbauten, da auf dem Asphalt.
Sie tragen nur ihre Wäsche, weil’s für Badesachen nicht reicht. Sie spielen hier, weil’s fürs Freibad nicht reicht. Sie spielen mit Steinen, weil’s fürs Spielzeug nicht reicht.
Hey, das ist nur, weil ihre Alten, die saufen und paffen all die Stütze weg. Iwo. Die wissen nur nicht wohin mit ihrem Frust. Nichts geht. Da müssen sie sich mal bauchpinseln, um den Kopf hoch zu halten. Nicht alle. Nein. Nicht alle. Aber einige.
Gib ihnen mehr. Illusionen. Illusion.
Sie stellten sich an den Rand eines Geysirs und ließen sich nass regnen. Einfach so. Herrlich bei der Hitze.
»Wie findest du denn ihre Demokratie?«, fragte Budaró und schüttelte sich das Nass aus seinen Haaren. »Ich find’s gut, echt. Ist wie mit einem rosa Pinsel malen.«
»Aber Demokratie ist ein Wort. Wie Mode. Meinung. Manifest. Eine Waffe. Für etwas. Gegen etwas.«
»Demokratie ist Befreiung.«
»Jaw. Aber plötzlich klingt’s gut, so wie immer, und ist doch eine Schufterei, wetten!«
»Hast ein Floh im Kopf.«
»Nee. Es schleicht sich einfach ran.«
»Sagst du nur wegen damals.«
»Nee, wetten! Wenn du was Falsches sagst, ist’s schlimmer als die falsche Religion zu haben.«
»Bist ein Schwarzmaler, Jorin.«
»Nee, Lokführer.« Jorin grinste. »Alles fährt an mir vorbei. So schnell, dass ich’s nicht einordnen kann. Es verändert sich wie die Landschaft. Mal ist was Gutes drin, dann siehst du es nicht schnell genug. Mal versteckt sich das Böse, und du findest es nicht.«
»Bist doch ein Schwarzmaler.«
»Wir reden doch nur, sonst wird’s langweilig.«
»Komm! Holen wir uns ein Eis.«
Ein Ordnungshüter blaffte sie ohne Vorwarnung an. »Hey, sie da. Hier spielen Kinder. Die übersehen sie und rennen in ihr Rad. Gehen sie weg da, ’rüber an die Mauer.«
Rüber an die Mauer. Wende. Dekonstruierte Wende. Wende.
2026. Wende. Abbruch. Umbruch, Umsturz, Umfeld. Wegfällt. Wegbruch. Aufbruch.
Das Gartentor schwang sanft auf. Jäh erfasste eine Bö es, nahm es und knallte es zu, richtig feste. Etwas knirschte, schepperte, etwas ging kaputt. Sonst war alles wie immer.
Es war ein ungewohntes Geräusch hier in den Schrebergärten, die eigentlich erst am Wochenende richtig erwachten, dann wenn die Grillkohle glühte und die Schlager trällerten, die Kinder bolzten, alle lachten. Während der Woche und wenn’s kalt war, dann war es hier so still wie untertage.
Auch damals war es still gewesen. Angst, dass Lärm die Uniformen erweckt, dass sie dich suchen wie das Auge von Sauron. Auch jetzt Stille. Und Angst, denn der neue Krieg rief. Alle in den Tod. Jetzt mussten sie gehen. Mitten aus dem Konsum heraus. Kommen sie! Unser Krieg für ihre neue Freiheit.
Budaró schob das Rad tiefer unter das Dach und schloss es ab. Er beobachtete Jorin. Der fingerte mit einer Schnur, um das Tor zu fixieren, weil es jetzt kaputt war.
»Lass das Tor auf«, bat Budaró. »In der Schnur können sich Tiere verheddern und wir sehen es nicht. Wir sind doch keine Fallensteller, wie die da mit den Tigern und den Walen und den Elefanten.«
»Pft«, raunzte Jorin. »Haben wir’s verhindern können, dass sie alles ruinierten: Klima, Bäume. Genozid.«
Technobiophilia. Techno. Bios. Philaleth.
Budaró grunzte und grinste. »Immerhin wohnen wir da, wo wir immer wohnen. Und meine Rosen wachsen auch.«
»Und jetzt jagen die uns in ihren Krieg. Wer schützt uns? Und du nennst mich Schwarzmaler?«
»Solange meine Hütte steht, steht meine Hütte. Wir hier unten, wir hoffen immer. Kopf weg.«
Jorin legte den Schlüssel aufs Fensterbrett. War doch ohnehin egal. Wer kommt zurück? Weißt du nicht, Eintagsfliege. Eintagsfliege, ab in den Krieg. Ade Stresssymptome und Psycho-Gequake, Soziales hier und da. Wir kürzen dein Leben ab. Fürs Vaterland. Für die Verteidigung der Freiheit.
Aber stimmt das so? Kuckuck, Kuckuck. Der ist weg. Gejagt. Aufgegessen. Verhungert. Beraubt seiner Bäume und Insekten. Wir müssen das tun, wegen Agrar und so. Müssen wir? Unkenrufe. Die Unken sind auch weg. Die echten und die symbolischen. Weil die so laut rufen können. Können die das wirklich? Niemand unkt. Stille.
»Der König hat’s befohlen, der ist Schuld«, schimpfte Jorin. »Jetzt stellt er uns ein Bein, weil falsche Propheten ihn für ihre Wahrheiten nutzen.«
»Jaw! Die Oberen, die sind längst auf Hawaii, sicher wie im Himmelbett. Wenn die zurückkehren, ist alles wieder prima.«
Nebeneinander schritten sie durch den Tunnel den Weg entlang. Alles war schmuck. Kein Baum, kein Strauch, keine Blume am Seitenrand. Tristesse. Tris. Tes. Se. Tristien. Tedeum. Serum. Es schallte hohl, es wirkte schutzlos, leer. Kein Halt fürs Auge. Strukturrausch gegen Atemluft.
Die Plattenbauten waren schmuck weiß-bunt angemalt sonst Rasenteppich Marke Uniform. Steril. Makulatur. Struktur. Profit in den Köpfen. Siegt Ordnung wider der Vernunft? Die Medien sagen es uns. Du da Baum, pfui, Kopf ab. Du da – Konformist? Jetzt der neue Krieg. Wenn eine Bombe in die Platten fiel, dann zersprang nur purer Beton. So oder so.
Budaró schaute zurück. Nicht er, aber sein geistiges Auge, weil sein Körper nicht zurück durfte.
»Sohn«, sagte er. »Unser Gartentor ist jetzt frei. Auch wir ziehen in den Krieg, um frei zu sein. Vielleicht sehen wir den Feind.«
»Vielleicht überleben wir.«
»Ja, vielleicht.«
Vielleicht. Vielleicht: Vieles ist leicht. Aber was hat das Leichte im Zweifel zu suchen?
Budaró und Jorin meldeten sich an der Kaserne. Zieh’ sie mal an, unsere Soldaten. Du da hinten, ja. Schau nicht so verschämt. Ich meine genau dich. Ziehe die Soldaten an. Jetzt. Das ist ein Befehl. Hose. Jacke. Tasche. Helm.
Mehr haben sie nicht. Das ist alles, was sie ausmacht.
Wie ein wehrloses Lebewesen in Fell, Rinde, Schuppen und Federn um sich zu wärmen, zu schützen, von einem Tag zum nächsten. Doch wir sind stärker als die da draußen. Wir schießen alles ab, wie’s euch gefällt. Feind ist Ding. Du da Feind, du Mensch, du Baum, du Tier, du existierst, weil’s uns gefällt. Hast keine Seele, keine Ziele, deshalb.
Wir schauen in die Seele von Budaró und Jorin. Nichts zu sehen. Sie haben keine Ziele mehr. Außer dass das vorbei ist. Außer dass sie den Feind hassen, weil man ihnen sagt, dass sie das tun müssen. Weil Hass über der Angst steht. Weil Hass ein Ziel ist, wenn kein Ziel mehr da ist.
Erinnern wir uns zurück. Damals, als wir primitive Jäger waren, wir gegen die wilden Kreaturen des Waldes kämpften. Instinkt. Geschwindigkeit. Muskelkraft. Für uns gehörte die Dunkelheit dazu. Sie war unsere Chance gegen den Feind. Ist das die neue Chance? Dunkelheit gegen Dunkelheit? Innere Dunkelheit, äußere. Umnachtung.
Du hast die beiden nicht gut angezogen. Ziehe ihre Gürtel enger um die Taille, damit sie wissen, dass sie tiefer Luft holen müssen, wenn sie überleben wollen. Drücke ihre Helme fester auf ihren Kopf. Damit der Schmerz ihre Gedanken beieinanderhält. Jetzt schicke sie los. Sie können nichts, also gehören sie zu den Fußtruppen. Wie die Rentiere. Dann kommt ein Zug. Rrtrtrtrtrt.
Rrtrtrtrtrt. Der Zug fuhr los zur Front. Er kam an.
Budaró stiefelte hinter denen, die wie er Helm und Jacken trugen und keine Ahnung hatten, wo es hinging. Alleine mit sich, mit dem Lärm von Stiefeln, die nicht sie selbst waren und Maschinen, die geboren waren zu töten. Dort lag ein Buch von einem, der nicht mehr lag.
Stein zerfällt. Gold weht davon.
Ein Sandbild von Wogen verwischt.
Unberührbare Transzendenz.
Nicht für immer auf dieser Welt nur für eine Weile.
Wind pfeift über unser Land.
Er hebt die Asche hoch und wirbelt sie fort.
Sie klebt auf unserem Haar.
Sie setzt sich in die Poren unserer Haut.
Wie ein Flaum liegt der feurige Pulvertod auf unserer Kleidung.
Wir reiben die Asche aus unseren Augen,
doch in unserem Gemüt bleibt sie.
Dann war es vorbei. Verhandlung da oben. Niemand war Sieger, die geopolitischen Träume verloren, die Börsenkurse wieder stabil. Auch die Oberen kehrten aus Hawaii zurück. Alles wie vor. Neue Ziele. Wende. Aufbau. Überhaupt ganz neue Politik und Diplomatie. Mal die Korruption besiegen oder so, ja das ist das Ziel. Schützt jetzt unsere Welt! Alles klar. Alles neu.
Ein Hund rannte auf Budaró zu.
»Hey, wer bist du denn?«, fragte er und kraulte ihn.
»Der kommt von da hinten, von denen da«, sagte einer. »Der hat keinen mehr.«
»Dann komm mal«, sagte Budaró freundlich. »Du gehörst jetzt zu mir. Ich nehme dich mit. In meinem Haus gibt es keine Tore. Kannst zwischen meinen Rosen liegen.«
»Du kannst den nicht mitnehmen. Ist verboten.«
»Ich kann.«
»Der ist zu groß zum Verstecken.«
»Wir sind noch viel größer und müssen uns verstecken.«
»Wie nennst du ihn?«
»Wa’a.«
»Du meinst war.«
War war! War war? Wa’a.
»Wohin nimmst du ihn mit?«
»Irgendwo da draußen.«
Irgendwo da draußen und weiter. Der Zug kam an. Da wo die Welt noch in Ordnung war. Budaró hätte auch woanders ankommen können. Da wo sich kein Gartentor im Wind schwang. Auf, zu. Zu, auf.
ENDE
📅 12.12.2024. 🖋 Der Text befindet sich im © Copyright 2024 von A. J. Witteberg. Möchten Sie Auszüge oder die ganze Kurzgeschichte veröffentlichen, sprechen Sie mich bitte an.